Die Aussicht, Konzepte der nichtlinearen Optik in den Röntgenbereich zu übertragen, war eine der wissenschaftlichen Triebfedern zur Entwicklung intensiver Freie-Elektronen-Laser im Röntgenbereich (XFEL). Wissenschaftler des Max-Born-Instituts, der Uppsala University und des European XFEL haben nun den Blick auf nichtlineare Prozesse im Röntgenbereich erweitert. In der neuesten Ausgabe des Wissenschaftsjournals Science stellen sie eine Studie vor, die einen innovativen Ansatz zur Messung der stimulierten Raman-Streuung im Röntgenbereich verfolgt. Anders als in bisherigen Experimenten, die zumeist auf der Detektion von Röntgenstreustrahlung eines dichten (gasförmigen) Mediums beruhen, werden in dieser Arbeit die einzelnen, durch den Photonenrückstoß gestreuten, neutralen Atome gemessen.
In einem der ersten externen Nutzer-Experimente am SQS Instrument des European XFEL in Hamburg hat die deutsch-schwedische Forscherkollaboration mit der „Abbildung des Photonen-Rückstoßes“ eine Technik etabliert, die im Experiment zwischen spontaner und stimulierter Ramanstreuung im Röntgenbereich unterscheiden kann. Um diesen neuen Ansatz zu verstehen, führe man sich zunächst vor Augen, dass Lichtteilchen (Photonen) als kleinste Energieeinheit des elektromagnetischen Feldes, wie sie von Einstein in den frühen Tagen der Quantenphysik postuliert wurden, auch einen Impuls mit sich führen. Daraus ergibt sich, dass ein Atom durch die Absorption eines Photons unweigerlich einen Stoß erfährt, ähnlich einer Billardkugel, die von einer anderen Billardkugel getroffen wird. Beim spontanen Raman-Streuprozess folgt der vorübergehenden Absorption eines Photons die spontane Emission eines Photons mit einer etwas geringeren Energie. Die Energiedifferenz der beiden beteiligten Photonen verbleibt im Atom indem ein Elektron in einen angeregten Zustand angehoben wird. Die Absorption setzt das Atom in Richtung des einfallenden Photons in Bewegung, während die spontane Emission eines Photons, die in eine zufällige Richtung erfolgt, das Atom in eine entsprechende zufällige, aber entgegengesetzte Richtung streut.
Um die Streuung der angeregten Atome im Experiment zu messen, benutzten die Wissenschaftler einen kollimierten Überschallstrahl von Neon-Atomen, die in Richtung eines ortsempfindlichen Detektors fliegen. Der Detektor ist so eingestellt, dass er nur angeregte Atome detektiert. In genügendem Abstand vor dem Detektor wird der Atomstrahl rechtwinklig vom XFEL-Strahl gekreuzt, wobei das resultierende Wechselwirkungsvolumen eine längliche Form aufweist, die durch den transversal eng begrenzten XFEL-Strahl vorgegeben ist. Wird die Energie der Röntgenphotonen resonant mit der Energie eines Innerschalenübergangs im Neon, unterliegen ungefähr 2 Prozent der transient angeregten Atome der spontanen Ramanstreuung, wobei das Atom sich schließlich in einem angeregten metstabilen Zustand befindet (der größte Teil der transient angeregten Atome wird durch schnelle Auger-Prozesse ionisiert, da die transiente Anregungsenergie die erste Ionisationschwelle um ungefähr einen Faktor 40 übersteigt). Der Photonenimpulsübertrag lenkt die angeregten Atome des kollimierten Atomstrahls leicht von ihrer geradlinigen Bahn ab. Das über viele XFEL–Röntgenblitze akkumulierte Detektorsignal zeigt ein charakteristisches Muster, welches in Abbildung 1a gezeigt wird. Es hat eine ausgedehnte elliptische Form, die von der Ablenkung der Atome aus dem Wechselwirkungsvolumen nach spontaner Streuung in eine zufällige Richtung herrührt.
Optimierten die Wissenschaftler nun die Intensität und die Photonenenergie der Röntgenblitze stieg die Wahrscheinlichkeit, dass ein transient angeregtes Atom mit einem weiteren XFEL-Photon geeigneter Photonenenergie wechselwirkt (die energetische Bandbreite der Photonen eines Röntgenblitzes liegt im Bereich der atomaren Anregungsenergien), bevor es spontan zerfällt. In diesem Fall wird das transient angeregte Atom zur Emission eines Photons in Richtung des einfallenden Photons stimuliert. Da dieser Prozess zwei Photonen aus einem Röntgenblitz benötigt, wird er als nichtlinear bezeichnet. Der resultierende Gesamtimpulsübertrag aus dem absorbierten und stimuliert emittierten Photons ist auf Grund der geringen finalen Anregungsenergie des Atoms vernachlässigbar. Angeregte Atome, die aus der stimulierten Ramanstreuung resultieren, werden daher im wesentlichen nicht abgelenkt und erscheinen auf dem Detektor als eine scharfe gerade Linie, die der Projektion des Wechselwirkungsvolumens entspricht. Sie können klar von den spontan Raman-gestreuten Atomen unterschieden werden, wie es in Abbildung 1b zu sehen ist. Das gemessene Signal angeregter Ne*-Atome lässt sich quantitativ auswerten und, wie in der publizierten Arbeit vorgestellt, mit theoretischen Modellen vergleichen.
Die Abbildung des Photonenrückstoßes ermöglicht die nahezu Untergrund freie Untersuchung stimulierter Ramanstreuung an einzelnen Atomen. In Kombination mit kurzen, zeitverzögerten Röntgenblitz-Paaren mit unterschiedlichen Photonenenergien - wie sie bereits an XFELs demonstriert wurden -, wird so eine höchst vielversprechende Analysetechnik für nichtlineare Röntgenprozesse etabliert. Die Wissenschaftler sehen diese Technik als erfolgsversprechend um fundamentale Effekte in der Wechselwirkung von intensiver gepulster Röntgenstrahlung mit Atomen und Molekülen zu erforschen. So scheint es auch möglich, kohärente Kontrollmethoden aus dem optischen in den Röntgenbereich zu übertragen.